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Lasst mich den Löwen auch spielen – Rollenklarheit im Business (Teil 1)
In Shakespeares Sommernachtstraum proben sechs Athener Handwerker eine Szene, um auf einer Hochzeitsfeier die tragische Liebeskomödie von Pyramus und Thisbe aufzuführen. Der Weber Zettel möchte nicht allein die Hauptrolle – den Pyramus – spielen, sondern zusätzlich den Löwen. Peter Squenz, der Spielleiter, antwortet: „Ihr könnt keine Rolle spielen als den Pyramus.“
Peter Squenz Entscheidung ist klug. Spielt ein Schauspieler gleich mehrere wichtige Rollen in ein und demselben Stück, kann das zur Verwirrung bei allen Akteuren auf der Bühne und den Zuschauern führen. Und nicht zuletzt zur Irritation beim Darsteller selber, der nahezu übergangslos mal in die Rolle des charmanten, artigen Kavaliers und dann in die eines brüllenden Löwen schlüpfen müsste. Was ihm seine Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit nimmt und auf die Dauer strapaziös und kraftraubend ist.
Im Einzelcoaching mit Führungskräften erlebe ich bisweilen eine ähnliche Rollendiffusion. Stellen wir uns unseren beruflichen Alltag als Businessbühne vor, auf der jeder von uns eine Vielzahl divergenter Rollen übernimmt, die durchaus Schnittmengen bilden. Das stellt uns vor die Herausforderung, alle Rollen deutlich erkennbar voneinander abzugrenzen, um ihre jeweiligen Verkörperungen authentisch und überzeugend zu präsentieren.
Die Wirkung einer Rolle – in ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung – definiert sich dabei nicht ausschließlich über das, was ich sage und tue, sondern vor allem auch, wie ich etwas sage und wie ich mich verhalte. Körperhaltung und Körpersprache, Stimme und Sprechen, Kontakt zu den Zuhörern und das Verhältnis zum Raum offenbaren, wie sicher, souverän und gelassen ich in meinen Rollen als Führungskraft wirklich bin.
Auf dem Hintergrund meiner Tätigkeit als Theaterregisseurin und Schauspiellehrerin kann ich meinen Coachees mit Methoden aus meiner Theaterpraxis Klarheit über die stimmige Verkörperung von Rollen und einen Zugewinn an Rollenklarheit verschaffen. Doch wie genau können Methoden aus der Theater- und Regiearbeit im Führungskräftecoaching von Nutzen sein?
Hier zwei Fragestellungen, die häufig auftreten:
A. Wie kann ich meine privaten und beruflichen Rollen klar trennen?
Menschen, mit denen wir sowohl beruflich als auch privat zu tun haben, nutzen diese doppelte Beziehung gelegentlich aus, um über den privaten Kanal berufliche Informationen zu senden. Meist sind es Informationen, die Konflikte mit anderen Kollegen betreffen. Wenn es sich bei dem Angesprochenen um eine Führungskraft handelt, ist zu vermuten, dass dahinter die Hoffnung steckt, dass diese „privaten“ Informationen von dem Angesprochenen in das berufliche Umfeld mitgenommen werden, der Konflikt dort kommuniziert und womöglich gelöst wird. Dieser heimliche Appell löst verständlicherweise ein Dilemma bei der Führungskraft aus.
Gelöst werden kann diese missliche Situation durch eine klare, sichtbare und erlebbare Unterscheidung zwischen privater und beruflicher Rolle in einer konkreten Gesprächssituation. In der Theaterpraxis wird so eine Verhaltensänderung „Statuswechsel“ genannt.
Um einen Statuswechsel ausführen zu können und konkrete Verhaltensstrategien zu entwickeln, trainiere ich mit meinen Coachees konkrete Praxisbeispiele. Dabei übernehmen wir wechselweise beide Rollen, um den Statuswechsel proben und reflektieren zu können: desjenigen, der unterschwellig einen Appell formuliert und der Führungskraft, die auf der privaten Ebene zugewandt ist und sich gleichzeitig auf der beruflichen Ebene abgrenzt. Ich achte dabei darauf, dass in der Rolle der Führungskraft vor allem auch körperlich, mimisch und stimmlich klar unterschieden und sichtbar gemacht wird, wann die Führungskraft in der privaten Rolle ist und wann in der beruflichen Rolle.
B. Wie kann ich mich als Führungskraft positionieren, obgleich ich zuvor im gleichen Team Kollege war?
Auch wenn die Übernahme der neuen Rolle im alten Team zunächst gut gelingt, ist die erste größere Herausforderung meist ein Kritikgespräch mit einem ehemaligen Kollegen.
Wie kann der neue Teamleiter dieser Herausforderung gerecht werden und zwischen beiden Rollen – langjähriger, vertrauter Kollege und Kritik übender Teamleiter – souverän wechseln? Die Lösung liegt häufig darin, dass glaubhafte Rollenwechsel während des Gesprächs stattfinden. Und das bedeutet nicht, dass der neue Teamleiter vom „du“ zum „Sie“ und dann wieder zum „du“ wechselt.
Denn die Beziehung zum Gesprächspartner vermittelt sich nicht allein durch die Wortwahl, sondern vor allem auch durch die Körpersprache. Entscheidend ist also die eigene Körpersprache zu reflektieren, was am besten im praktischen Training gelingt. Wie lässig stehe oder sitze ich als empathischer Kollege? Welche Körperhaltung passt zu meiner Leitungsfunktion? Wie drücke ich mich als Teameiter aus, wenn ich wertschätzend und konstruktiv Kritik übe? Welche Modulation meiner Stimme und wie viel körperliche Nähe passen zu einem Kritikgespräch? Und mit welcher Haltung und mit wie viel Empathie beende ich das Gespräch?
Empfehlenswert ist es, wenn ein anspruchsvolles Gespräch einer Teamleitung mit einem ehemaligen Kollegen in drei Phasen verläuft: Es beginnt auf der Beziehungsebene, wechselt dann auf die Sachebene und endet wieder auf der Beziehungsebene. Verantwortlich für den Wechsel der Ebenen und damit auch für den eigenen Rollenwechsel ist derjenige, der das Gespräch leitet – in diesem Fall also der Teamleiter. Um sicher und klar die Ebenen und Rollen zu wechseln, braucht er Routine. Und hier kommen wieder – im wahrsten Sinne des Wortes – die Theatermethoden ins Spiel. Mit meinen Coachees probe ich an konkreten Praxisfällen und gebe ihnen auf dem Hintergrund meiner langjährigen Erfahrung als Regisseurin und Schauspiellehrerin Rückmeldungen und Feedback zu den Wechseln der Ebenen und ihrer Rollenklarheit. Nach mehreren Wiederholungen stellt sich dann Routine ein und der Rollenwechsel fühlt sich nicht mehr ungewohnt an.
Zu den Aufgaben eines Schauspielers gehört es, eine Rolle auf der Bühne zu „verkörpern“. Gute Schauspieler nehmen diese Verkörperung wörtlich und legen sehr viel Wert auf die körperliche, gestische, mimische, sprachliche und stimmliche Ausgestaltung ihrer Rolle. So wirken sie in ihrer Rolle authentisch und leben sie für die Dauer des Theaterstückes. Gleiches gilt für die Businessbühne: Alle beruflichen Rollen, die ich im Arbeitsalltag innehabe, müssen mir passen wie eine zweite Haut. Wenn ich mich in meinen Rollen und den dazu gehörenden Rollenwechseln souverän fühle, sie mit meiner Persönlichkeit ausfülle und ihre Wirkung gezielt einsetze, kann ich überzeugen. Voraussetzung dafür ist eine sensible Selbstreflexion, ein breit gefächertes Verhaltensrepertoire und professionelle Routine. Methoden aus der Theater- und Regiearbeit können bei der Klärung von Businessrollen ungemein unterstützend wirken.
Ich bin mir sicher, der Weber Zettel in Shakespeares Komödie hätte mit einem Coaching beide Rollen der Komödie – sowohl den verliebten Pyramus als auch den gefährlichen Löwen – glaubhaft, unmissverständlich und mit Begeisterung verkörpern können.
Herzlichst Ihre
Barbara Müller
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